Historische Stadtrundgänge
Stadtteil Unterboihingen
Station 2:
Bahnhof Unterboihingen und Hotel Keim
1 - Bahnhof Unterboihingen

Abb. 1: Bahnhof, Poststation (links) und Hotel Keim (rechts). Foto aus dem Jahr 1905. Das Bahngleis im Vordergrund führte zum Güterschuppen. Aus HERGENRÖDER, 1992.
Bis Mitte des 19. Jahrhunderts war der Transport von Gütern nur eingeschränkt möglich. Der Bau der Eisenbahnen sollte dies entscheidend verbessern. Erst ein Bahnanschluss erlaubte die Ansiedlung von größeren Industriebetrieben und verbesserte somit auch die Beschäftigungssituation in dem Einzugsgebiet der Bahnstrecke. Für die Erweiterung der Fa. Otto in Unterboihingen und das weitere Werk in Wendlingen war der Bahnhof Unterboihingen mit auschlaggebend. Auch für die spätere Ansiedlung der Fa. Behr in Wendlingen war die Bahnhofsnähe sehr wesentlich.
Die Bahnstrecke von Cannstatt nach Plochingen nahm im Jahr 1846 ihren Betrieb auf. Mit dem Bau der Eisenbahn von Plochingen nach Horb am Neckar wurde im Jahr 1853 begonnen, die Teilstrecke von Plochingen nach Nürtingen wurde 1859 in Betrieb genommen. Gleichzeitig wurde das Bahnhofsgebäude mit der Doppelfunktion als Post und Bahndienststelle errichtet. 1899 wurde die Strecke nach Reutlingen zweigleisig ausgebaut. Der eigentlich abseits des Dorfes gelegene Bahnhof wurde immer mehr zu einer vorgelagerten Bebauungsinsel, so mit dem Güterschuppen, und dem Bügeleisenhaus als Dienstwohngebäude für die Angestellten von Bahnhof, Postamt und Telefonstation. Ein Ladegleis kam ebenfalls dazu. Die Elektrifizierung erfolgte um 1934, und sorgte durch stärkere Loks für schnellere Verbindungen.
Untrennbar verbunden mit der Inbetriebnahme der Eisenbahn sind die Anfänge eines neuzeitlichen Postwesens. Bahn und Post waren anfangs weder räumlich noch personell getrennt. Das heißt: Das Empfangsgebäude diente auch den Zwecken der Post, und der Stationsmeister war auch der Postexpeditor. Ab 1900 fand die räumliche Trennung statt, und eine Telefonanstalt beziehungsweise Telegraphenhilfsstelle wurde in einem ersten südlichen Anbau eingerichtet. 1907 erfolgte auch die personelle Trennung. Die 5 Postbediensteten konnten 1923 ein eigenes Gebäude in einem weiteren Anbau beziehen (Heute: Da Mamma); 1935 kam dann für die 81 Teilnehmer der Umgebung der Selbstwähldienst im Ortsnetz, und 1956 auch der Selbstwählferndienst. 1959 konnte der Postamtsneubau beim Rathaus bezogen werden, wieder auf der grünen Wiese zwischen den Ortsteilen.
Der Bahnhof liegt auf der Gemarkung von Unterboihingen. Die Umbenennung zum „Bahnhof Wendlingen am Neckar“ erfolgte nach der Zusammenlegung der Ortsteile.
Besonders in Kirchheim u. T. drängte man darauf, auch diese Stadt an das Bahnnetz anzubinden. Besonders die dort ansässigen Firmen wie Kolb & Schüle und Leuze versprachen sich dadurch erhebliche Standortvorteile. Ferner hatte die Stadt zu dieser Zeit den größten Wollmarkt Süddeutschlands, mit einem jährlichen Umsatz von mehr als 2 Millionen Gulden.
Da mit staatlicher Unterstützung nicht zu rechnen war, beschloss der Kirchheimer Gemeinderat im Jahr 1860 den Bau einer Privatbahn voranzutreiben. Nach den staatlichen Genehmigungen wurde die „Eisenbahngesellschaft Kirchheim unter Teck“ gegründet, die mit dem Verkauf von Aktien den Bau finanzieren wollte. Im November 1862 hatten bereits 170 Personen und Firmen Anteile erworben. Somit waren 2/3 der Baukosten finanziert. Schon im Jahr 1864 wurde am 8. Februar mit dem Bau begonnen. Die 6,3 km lange Bahnstrecke war bereits nach 7 ½ Monaten am 21. September fertiggestellt. Unterboihingen mit seinem Bahnhof war somit zu einem wichtigen Verkehrsknotenpunkt geworden! So wurden auf der Bahnstrecke von und nach Kirchheim bereits im Jahr 1865 über 100.000 Fahrgäste befördert. 1873 waren es 200.000 und um die Jahrhundertwende bereits 300.000 Personen.
2 - Hotel Keim
Gegründet wurde das Hotel Keim von Simon Keim, der 1842 in Unterboihingen geboren wurde. Schon mit 6 Jahren wurde er Vollwaise.
Er erlernte in Frankfurt am Main das Metzgerhandwerk und arbeitete dann in Darmstadt in der Gastronomie. Anfang 1863 kam er zurück und wollte sich hier als Metzger und Gastwirt selbständig machen. Das stieß auf Schwierigkeiten von Seiten der Gemeinde und des Oberamtes, denn es gab schon einen Metzger und mehrere Wirtschaften im Ort, und man befürchtete ein Überangebot.
Als er aber 7000 Gulden Vermögen und seine Braut, die Arzttochter Maria Kolb aus Weil der Stadt mit 4000 Gulden Bargeld präsentieren konnte, waren die Bedenken schnell verflogen. Schon eine Woche nach seiner Hochzeit konnte man im Wochenblatt lesen:
„Sonntag, den 12. Des Monats [Juni 1864] werde ich meine Wirtschaft in der Nähe des Bahnhofs eröffnen, und bitte unter Zusicherung guter Speisen und Getränke, namentlich vorzüglichen Lagerbiers, bei prompter Bedienung um zahlreichen Besuch.“
Das erste Lokal war im Bauernanwesen des 1863 verstorbenen Schultheißen Simon Baumann in der Bahnhofstrasse 16, damals außerhalb des Dorfes. Aber schon Ende 1867 übergibt Keim dem Gemeinderat Bau- und Situationspläne, um auf Ackerparzellen gegenüber dem Bahnhof (heute Bahnhofstrasse 26) ein Wirtschaftsgebäude zu erbauen, 23 Fuß lang und 35 Fuß breit (6,6 x 10 m) mit zwei kleinen Anbauten. Dazu wird er seine bisherige Wirtschaft verkaufen. Simon Keim hatte die Chancen, welche der neue Verkehrsknotenpunkt mit sich brachte, als erster begriffen!
Das Wirtschaftsgebäude wird noch im Jahr 1868 eröffnet; 1872 kommt eine Scheune dazu, 1882 eine Kegelbahn (18 x 2,5 m mit einem Partienhäuschen), 1893 wird der Saal angebaut, und 1900 eine Dunglege eingerichtet; 1901 erhält der Saalbau ein zweites Stockwerk, und 1910 wird zwischen Saal und Remise ein Zwischenbau eingefügt und dann eine Waschküche angebaut. 1914 wird die Kegelbahn mit Fachwerk versehen, damit sie geheizt werden kann. Das erlebt Simon Keim nicht mehr: er stirbt in diesem Jahr, 5 Jahre nach seiner Frau, bei seiner Tochter in Spaichingen.
Von den 10 Kindern der Ehe übernimmt Emil, der zweitjüngste (*1877) mit seiner Frau Clothilde das Geschäft nach seiner Hochzeit schon 1905. Und es wird weiter an- und umgebaut! 1938 sind vorhanden: Kegelbahn und Gartenwirtschaft, Saal, Kelter, Remise, Waschküche und Garagen für 6 Wagen. Auch für diese ist eine Tankstelle der Rhenania-Ossag vorhanden. Sohn Walter (*1911) übernimmt nach Lehrjahren in Frankreich 1938 das Hotel pachtweise. Als er eingezogen wird, arbeiten neben der Mutter seine Frau Maria, eine Bedienung, zwei Küchenmädchen, ein Zimmermädchen und ein französischer Kriegsgefangener im Betrieb, der mittlerweile 12 Fremdenzimmer hat.
Die Parteileitung der NSDAP versichert, dass Veranstaltungen mit einigen 100 Personen nur in dem zentral gelegenen Wendlingen stattfinden können und in jeder Woche mindestens 2 Veranstaltungen im Bahnhotel stattfinden. Außerdem bezieht ein sehr großer Teil der Gaststätten in der Umgegend seinen Wein von der Weinhandlung Keim. Nach Kriegsende wird bis Ende 1945 das Hotel von den Amerikanern beschlagnahmt, die dort auch ihre Küche einrichten. 1946 werden für 1000 Mark Mineralwasser und für über 9000 Mark Bier, sowie für über 6000 Mark Wein eingekauft. Die Betriebseinnahmen aus Hotel und Gaststätte sind damals mit über 41.000 RM angegeben. 1948 wird eine Schnellgaststätte mit Eisdiele an das Hotel angebaut und dafür die Kegelbahn entfernt. 1962 wird am Eingang ein Damenstrumpfautomat aufgestellt und 1972 im Nebenzimmer ein Spielcasino mit Roulette-Spieltisch eröffnet; später sind dort Geldspielgeräte und ein Flipper vorhanden. Die verschiedenen Pächter der Spielhalle geben aber schon 1974 wegen schlechtem Geschäftsverlauf wieder auf.
Eine Blütezeit erreichte das Bahnhotel noch einmal bis Anfang der 80er Jahre. Die beengte Lage zwischen Bahnhofstrasse und Kirchheimer Gleis, erforderliche Großinvestitionen zur Modernisierung und das allgemeine Wirtschaftssterben waren auch Gründe dafür, dass das Traditionshaus im Jahr 1991 schließen musste. In die Schnellgaststätte, bis 1993 in Betrieb, zog dann noch kurz ein Versandbuchhandel ein.
Nach Kauf durch die Stadt und kleineren Umbauten wurde 1993 ein Bürgertreff, der „Treff im Keim“ eröffnet. Als der TiK dann 2009 in den Treffpunkt Stadtmitte wechselte, wurde das Gebäude Ende 2011 abgerissen. Die alte Registrierkasse ist heute im Stadtmuseum ausgestellt.
An der Stelle des ehemals „Erstes Haus am Platze“ entstand die Sozialstation Wendlingen am Neckar e.V.
Miscellen
- Kurz nach 1910 wurde Emil Keim noch als Messweinlieferant für den katholischen Pfarrer vereidigt.
- 1934 stellte der Wirtschaftskontrolldienst fest, dass verbotene Weinverschnitte hergestellt wurden.
- In der „Schnelle“ kannte man die täglichen Umsteigegäste so gut, dass bei Ankunft des Zuges die gefüllten Gläser schon auf dem Tresen standen.
- Mehrere örtliche Vereine hatten im Keim ihre Gründungsversammlung, so etwa der Schwäbische Albverein.
- Keims Spezialität zu Beginn war es, nicht nur Weine, sondern auch Trauben aus Südtirol zu beziehen. Die Trauben wurden von ihm selbst gekeltert und ausgebaut. Ferner war er einer der wenigen Direktimporteure von „Pilsner Urquell“ im Großraum Stuttgart.
- Legendär waren auch die dort stattfindenden Tanztees.
- 1982 beschwert sich ein Gast über die teuren 35 DM für Übernachtung und Frühstück.
Literatur
- HERGENRÖDER, G. (1992): Wendlingen am Neckar. Auf dem Weg zu einer Stadt. Die Geschichte von Wendlingen, Unterboihingen und Bodelshofen. – Osswald, Kirchheim unter Teck
Abbildungen

Abb. 2: Aufruf zum Aktienkauf für den Bau der Bahnstrecke Unterboihingen-Kirchheim u.T. Aus HERGENRÖDER, 1992.

Abb. 3: Simon Keim mit seiner Frau Maria. Aufnahme um 1900. Aus HERGENRÖDER, 1992.

Abb. 4: Der Eingang zum Hotel Keim, circa 1900. Die Gartenlaube ermöglichte die Bewirtung im Freien. Aus Hergenröder, 1992.

Abb. 5: Das Hotel Keim Mitte der 1970er Jahre.

Abb. 6: Das Hotel Keim mit Anbau, 1990er Jahre.
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